Diskussionsbeiträge
der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004
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4 | Emotional involvement in the conflict |
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D4 | De-escalation-oriented
pole: Constructive
emotions |
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D4.5 |
Emphasis on cooperative experiences (also in the past) rebuilds trust |
Example D4.5.1 |
Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 31.10.2000, S. 16, Zeitgeschehen
Die zweite Öffnung
Serbiens "Rückkehr nach Europa" ist mit vielen
Hindernissen gespickt / Von Matthias Rüb
BUDAPEST, Ende Oktober.
Es
ist noch nicht so lange her. Jedenfalls haben sogar Menschen jüngeren Alters
- etwa in Ungarn, aber auch in anderen Nachbarstaaten - noch eine eigene lebhafte
Erinnerung an jene Zeiten. Aus Budapest fuhr man zum Einkaufen dorthin, weil
man die Auswahl und auch das Flair schätzte. Für Menschen in Sofia
und schon gar in Bukarest lag das Reiseziel weit hinter den Bergen der real
existierenden Möglichkeiten, während man aus Wien oder aus Rom dorthin
fuhr wie in ein beliebiges anderes Nachbarland im Westen.
Die
Rede ist von Jugoslawien und insonderheit von Belgrad, der Hauptstadt der einstigen
Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Man mag es sich heute
- hüben wie drüben - kaum mehr vorstellen, aber vor zehn, fünfzehn
Jahren gehörten Land und Stadt zu Westeuropa. Die Menschen dort lebten
nicht schlecht, fuhren neben Autos aus heimischer Produktion auch solche aus
dem Westen. Die Möbelhauskette "Ikea" kaufte schon in den achtziger
Jahren ein Grundstück in Belgrad, um von dort aus auch den jugoslawischen
Teil der Menschheit davon zu überzeugen, daß man mit dem Imbusschlüssel
das Tor zum Glück oder jedenfalls zur Behaglichkeit öffnen kann. Die
Kriege von 1991 an durchkreuzten dann die schwedischen Pläne - vorerst.
Natürlich gab es in Belgrad schon einen "McDonald's", lange bevor
die Propaganda aus Amerika den Lieblingsfeind des stolzen, unbeugsamen serbischen
Volkes machte.
Kurzum,
die Menschen in Serbien waren zwar durchschnittlich nicht so wohlhabend wie
die Angestellten in westeuropäischen Staaten, mußten dafür aber
deutlich weniger arbeiten. Jugoslawien seinerseits war für den Westeuropäer
ein Ferienziel wie Italien und Spanien, während man für Ungarn sogar
noch ein Visum brauchte. Umgekehrt galt dasselbe: Der blaue jugoslawische Reisepaß
war das Eintrittsbillett in die Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft,
man war ein gern gesehener Gast. Selbst den chronisch inflationskranken Dinar
konnte man vielerorts problemlos eintauschen, und Deutsche Mark hatte sowieso
jeder.
Heute
kann es vorkommen, daß jemand in Deutschland, der nach Belgrad fahren
will, gefragt wird, ob das dort nicht gefährlich sei. Ein Visum ist nicht
so leicht zu bekommen, doch verglichen mit den demütigenden Prozeduren,
die jugoslawische Staatsangehörige ihrerseits durchlaufen müssen,
um einen Einreisevermerk für "Schengen-Europa" zu bekommen, ist
der Besuch eines jugoslawischen Konsulats in einem westlichen Land ein Spaziergang.
Klar ist, daß die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro)
heute neben Albanien und Moldova der ärmste und "fernste" Staat
unseres seit 1989 angeblich nicht mehr in einen West- und in einen Ostteil getrennten
Kontinents ist. Mit mehr als zehn Jahren Verspätung und nach dem "Umweg"
über vier verschuldete und verlorene Kriege will Jugoslawien, will Serbien
jetzt "zurück nach Europa".
Es
gehörte zu den Wahlversprechen des neuen jugoslawischen Präsidenten
Kostunica, aus Serbien (wieder) ein "ganz normales europäisches Land"
machen zu wollen - und dafür hat er von der Mehrheit der Wähler am
24. September ein Mandat bekommen. Abermals bedurfte es eines "Umwegs"
- dem über einen gewaltsamen, aber fast unblutigen Umsturz am 5. Oktober
-, ehe mit dem Diktator Milosevic die Blockade auf der Straße nach Europa
beseitigt werden konnte.
Die
Rede von der "Rückkehr Serbiens nach Europa" ist also mehr als
eine Floskel, denn in verschiedener Hinsicht gehörte das blockfreie Jugoslawien
Titos eher zum West- als zum Ostteil des Kontinents. Politisch hatte die kommunistische
Herrschaft des "Marschalls" und seiner kollektiv-rotierenden Nachfolger
von 1980 zwar gewiß nichts mit einer Demokratie zu tun. Doch allein die
Offenheit des Landes brachte die intellektuelle, politische und wirtschaftliche
Elite mit der Gedanken- und Lebenswelt von Demokratie und Marktwirtschaft in
Berührung - was einen Teil
dieser Elite freilich nicht davor bewahrte, wenig später zur Speerspitze
des aggressiven serbischen Nationalismus zu werden. Nach der Machtübernahme
Milosevics und der nationalistischen Uniformierung verließen Zehntausende
qualifizierte Fachleute und Intellektuelle das Land. Und wer daheim blieb, versuchte
die Zeit der Kriege, des Hasses und des allgemeinen Niedergangs zu "überwintern".
Doch
bis zuletzt gab es in Belgrad und anderswo eine dünne Schicht von kritischen
Künstlern und Intellektuellen, auch von demokratischen Politikern, die
gegen das Virus des Nationalismus (fast) immun waren. Viele von ihnen gehören
jetzt zur neuen politischen Führungsschicht um Kostunica, das Parteienbündnis
Demokratische Opposition Serbiens und die Gruppe unabhängiger Ökonomen
"G17 plus".
Für
sie und vor allem für die Generation der heute etwa Zwanzigjährigen,
die sich von der Studenten- und Bürgerbewegung "Otpor!" (Widerstand!)
vertreten fühlen, steht hinter der "Rückkehr nach Europa"
vor allem der Wunsch, endlich die jahrelange Isolation zu überwinden. Dabei
haben in den Köpfen und Herzen auch intelligenter junger Menschen durchaus
widersprüchliche Befindlichkeiten nebeneinander Platz. Man will den Lebensstil
und auch den Wohlstand der Menschen im Westen teilen, man trägt echte "Nike"-Turnschuhe
und "Levis"-Jeans, hält die Verschwörungstheorien der Milosevic-Propaganda
über das mutwillige Zerschlagen Jugoslawiens durch Amerika, Deutschland
und den Vatikan sowie über die einseitig antiserbische Einstellung der
westlichen Regierungen für nicht ganz abwegig. In den ersten Tagen des
Bombenkrieges der Nato zwischen Ende März und Mitte Juni 1999 waren die
Gebäude westlicher Botschaften und Kulturinstitute in Belgrad das Ziel
von Steinwürfen und wurden mit wüsten Parolen beschmiert. Gegen die
Fensterscheiben des "McDonald's" in der Belgrader "Terazije"-Straße
flog nicht nur kein einziger Stein, man sprach auch unter amerikanischen Bomben
fleißig dem amerikanischsten aller Imbisse zu.
Gewiß
sind die Flurschäden beträchtlich, welche die jahrelange Haßpropaganda
gegen den Westen und zumal gegen Amerika in der Gedanken- und Gefühlswelt
vor allem der weniger gebildeten Menschen hinterlassen hat. Hinzu kommt das
Gefälle zwischen den halbwegs "aufgeklärten" Städten
und dem Land, wo das gleichgeschaltete Staatsfernsehen die einzige Informationsquelle
war. Doch wenn die Propaganda erst einmal ausgeschaltet ist, beginnt auch das
Umdenken.
Jüngste
Umfragen zeigen, daß inzwischen mehr als zwei Drittel der Serben der Ansicht
sind, Milosevic sei ein schlechter Präsident gewesen, und vier Fünftel
wünschen, er möge keinen Einfluß mehr auf die Geschicke des
Landes nehmen.
Unter
Tito war die Öffnung nach Europa die Taktik eines autokratischen Regimes
zur Verlängerung und Stabilisierung der Herrschaft. Es ging um den Export
wirtschaftlicher Probleme - aus Arbeitslosen im Land wurden Gastarbeiter in
der Schweiz, in Österreich und vor allem in Deutschland. Und es ging um
den Import von dringend benötigten Devisen - mittels Überweisungen
der fleißigen Gastarbeiter und zumal durch die aus politischem Kalkül
großzügig gewährten Kredite westlicher Staaten. Der Plan konnte
nur mittelfristig gelingen. Auf lange Sicht mußte er ebenso scheitern
wie die ebenfalls machttaktisch motivierte Abschottung unter Milosevic.
Beim Projekt der "zweiten Öffnung" nach Europa hat Serbien mit
abermals erschwerten Voraussetzungen zu kämpfen.
All die Schwierigkeiten der Transformation, unter welchen die Menschen selbst
in den am weitesten fortgeschrittenen Reformstaaten wie Polen, Slowenien, Tschechische
Republik und Ungarn noch zehn Jahre nach der Wende leiden, stehen Serbien noch
bevor. Auf keinem Boden geht die Saat des Nationalismus so rasch auf wie auf
dem einer schweren Wirtschaftskrise. Diese Art von Humus wird das von
Mißwirtschaft und Krieg zugrunde gerichtete Land in den kommenden Jahren
aber noch zuhauf hervorbringen - und damit gute Arbeitsbedingungen für
neue Rattenfänger des Nationalismus. Hinzu kommt, daß die "serbische
Frage" noch immer offen ist - und nur in der Weise beantwortet werden kann,
daß der Vielvölkerstaat Serbien ein Bürgerstaat aller seiner
Nationen und Völker wird und daß die serbischen Minderheiten in Bosnien,
Kroatien und im Kosovo Brücken werden zu den Nachbarn statt wie bisher
Brückenköpfe für Angriffskriege. Das ist ein politisches, wirtschaftliches
und kollektivpsychologisches Arbeitsprogramm, das eigentlich über die Kräfte
geht. Die seit mehr als einem Jahrzehnt immer nur verkündete "heroische
Ära" des serbischen Volkes beginnt erst jetzt.
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