Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004

3 Evaluation of the war parties' actions
D3 De-escalation-oriented pole: Cooperation
D3.3

(Supporting) description of cooperative behavior, of possibilities for cooperation or common gain from ending the war and/or
the Role of third parties is interpreted as mediating (win-win) rather than exerting (moral, economic or military) pressure (win-lose)

    Example D3.3.2



Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.04.1962

Eine neue Generation in Frankreich

Ein Bummel durch die großen Pariser Kaufhäuser in diesen Frühjahrstagen überzeugt sicherer, als es die besten Statistiken hätten tun können, wieviel sich in Frankreich in letzter Zeit geändert hat. Das Warenangebot ist - verglichen mit dem Status vor einigen Jahren - europäischer geworden. Man kann jetzt auch an der Seine zum Beispiel deutsche Radioapparate in reicher Auswahl kaufen, italienische Badekostüme bewundern oder holländische Spezialitäten in den Schaufenstern finden. Dem deutschen Besucher mag diese Beobachtung nicht sonderlich imponierend erscheinen, weil wir in dieser Beziehung durch unsere frühzeitige Liberalisierung verwöhnt sind. Für die Franzosen bedeutet jedoch die sichtbare Bereicherung des Angebots durch Einfuhren aus dem Gemeinsamen Markt sehr viel. Auch bei ihnen demonstriert sich jetzt in den Schaufenstern die Richtigkeit des liberalen Wirtschaftskurses und der engeren Zusammenarbeit in Europa.
Spricht man heute mit französischen Unternehmern oder Bankiers, so wird erst recht deutlich, was sich alles im Lande geändert hat. Das beginnt damit, daß beinahe alle Franzosen von ihren Auslandsbesuchen schwärmen, die sie geschäftlich planen oder schon realisiert haben. Während es die Franzosen früher gewohnt waren, Geschäftsfreunde in Paris, also auf heimatlichem Boden, zu empfangen, sind jetzt die Firmenchefs und leitenden Angestellten geradezu von einem Reisefieber befallen. Heute trifft man sie überall in den großen internationalen Hotels, sei es in Mailand, Frankfurt, London oder Amsterdam. Franzosen gehören heute auch zu den eifrigsten Messebesuchern in Europa. Sie sind überall bemüht, neue Beziehungen und Freundschaften anzuknüpfen. Auch in den französischen Büros und Geschäften - das ist unverkennbar - weht jetzt vielfach ein anderer Wind. Die Angestellten in Paris zum Beispiel beklagen sich, daß immer mehr Firmen darauf drängen, die traditionelle lange Mittagspause abzuschaffen. Ein Kaufmann sagte uns: "Wir bedauern das zwar, aber was sollen wir machen? Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, den Betrieb zu schließen, wenn unsere Konkurrenten in Deutschland oder in den Beneluxländern am Telefon oder am Fernschreiber sitzen." Eine solche Haltung wäre vor wenigen Jahren in Frankreich noch als revolutionär empfunden worden. Heute paßt man sich an.
Auf Vorstandssitzungen und Verbandstagungen, aber selbst in der intimen Atmosphäre der Pariser Salons, ist die geistige Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlichen Zusammenschluß Europas im Gange. Das Thema erregt die Gemüter. Man
erinnert sich der schweren Nachkriegsjahre Frankreichs. Draußen der zehrende Kolonialkrieg, erst in Asien, dann in Afrika. Drinnen - bis Ende 1958 - die ständige Inflation. Der glückliche Umstand, daß die Stabilisierung des Francs und der neue Wirtschaftskurs mit dem Beginn des Gemeinsamen Marktes zusammenfielen, hat es dem französischen Kaufmann dann aber ermöglicht, sich sofort auf die neuen, größeren Chancen einzustellen. Inzwischen ist praktisch die Vollkonvertibilität der Währung eingeführt. Eine politische Lösung für Algerien wurde gefunden. Der Weg nach Europa ist frei. Die Franzosen beginnen, ihre Arbeit eindeutig auf dieses neue Ziel auszurichten. Man macht im französischen Unternehmerlager auch keinen Hehl daraus, daß Frankreich den enormen Aufstieg der Bundesrepublik als eine "Herausforderung" an die französische Wirtschaft empfindet, ein Wort, das uns mehrfach in Gesprächen, und sicherlich nicht zufällig, begegnete. Wer sich der betont reservierten und teilweise resignierten Haltung französischer Unternehmer gegenüber dem Gemeinsamen Markt vor einigen Jahren erinnert, ermißt die Größe der Wandlung. Heute ist die französische Wirtschaft wieder selbstbewußt. Die harte Währung hat wesentlich dazu beigetragen. Die Binnenkonjunktur ist ausgezeichnet. Der Export floriert. Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie im EWG-Raum ist durch die Aufwertung der Mark und des Guldens gewachsen. "Die Deutschen" sind für die meisten französischen Unternehmer heute durchaus kein Alptraum mehr. Die jüngste Konjunkturdiskussion in Bonn - so meinen viele Franzosen - habe deutlich gezeigt, daß auch in Deutschland nur mit Wasser gekocht werde.
Der Abbau von "Minderwertigkeitskomplexen", die es früher im Lande gab, ist zwar zum größten Teil den veränderten äußeren Umständen, der verbesserten politischen und monetären Lage, zu verdanken. Aber erklärt dies allein die veränderte Haltung der Franzosen zum Gemeinsamen Markt? Sie mögen es vielleicht selbst kaum bemerken, aber für Ausländer, besonders für uns Deutsche, ist es auffällig, daß sich drüben nicht nur die Gedanken, sondern auch die Menschen, die in der Wirtschaft und in der Politik meinungsbildend sind, erheblich "verjüngt" haben. In Frankreich ist - unmerklich - eine neue Führungsschicht ins Rampenlicht gerückt, die man, grob gesprochen, als "die Generation der Vierzigjährigen" bezeichnen kann. Während sich bei uns noch die überwiegende Mehrzahl der Führungspositionen in den Unternehmen und Verwaltungen in Händen von Sechzigjährigen befindet, ist jenseits des Rheins schon eine andere Generation "am Hebel". Es handelt sich praktisch um die Kriegsgeneration, die offensichtlich dabei ist, auch einen "neuenTyp des Franzosen" zu prägen. Diese jungen Leute sind voller Energie, schleusen neue Ideen in die Fabriken und Kontore, arbeiten intensiv und wissen, was sie wollen. Dabei treten sie gewöhnlich viel bescheidener auf als etwa Unternehmer aus manchem anderen Land. Von Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den Nachbarn ist diese neue Generation nicht geplagt.
Auch in den Ministerien und den zentralen Verwaltungsbehörden haben viel mehr junge Spitzenkräfte als etwa bei uns in Deutschland Fuß gefaßt. Sie haben eine Reihe von wichtigen Reformen durchgesetzt, die sich alle zum Vorteil der französischen Wirtschaft ausgewirkt haben. Frankreich kann heute zweifellos von dem Unstand profitieren, daß es seine Kriegsgeneration, die Jahrgänge von etwa 1915 bis 1925, nicht im Zweiten Weltkrieg verloren hat, wie dies in Deutschland der Fall war; und was uns jetzt erst so richtig zum Bewußtsein kommt. Unter Anleitung Älterer ist die Jugend Frankreichs nach 1945 allmählich in den Staat und in die Wirtschaft hineingewachsen.
Inzwischen hat sich geräuschlos die Wachablösung vollzogen, während bei uns die ältere Generation immer noch warten muß, bis die ganz Jungen so weit sind, weil die mittleren Jahrgänge weitgehend fehlen. Hier liegt offensichtlich eines der Geheimnisse des so schnell vollzogenen Umdenkens Frankreichs in Richtung Europa und den Gemeinsamen Markt, denn die junge Generation ist es, die positiv zur Vereinigung Europas steht. Ohne Zweifel hat die "Verjüngung" der Führungsschicht auch unmittelbare Auswirkungen auf die Modernisierung der französischen Wirtschaft gehabt.
Da ist zum Beispiel die Familie, der seit Jahrzehnten ein Mittelbetrieb in der keramischen Industrie gehört. Das Unternehmen wirft zwar laufend genügend Gewinn ab, um die Besitzer zu ernähren. Aber an eine grundlegende Modernisierung war bisher nicht zu denken. Die Ersparnisse der Familie wurden nämlich - was bisher vielfach typisch für französische Verhältnisse war - außerhalb des Betriebes, in Gold oder in Wertpapieren, angelegt. Erst dem Sohn, der jetzt den Vater in der Unternehmensführung ablöste, gelang der Durchbruch nach vorn. Er knüpfte Fusionsverhandlungen mit der Konkurrenz an. Man tauschte gegenseitig die Kapitalanteile aus und beschaffte sich über die Börse neues Kapital für den größeren Betrieb. Das Unternehmen ist heute auf dem besten Wege, so leistungsfähig zu werden, daß es den Wettbewerb im vergrößerten europäischen Wirtschaftsraum nicht mehr zu fürchten braucht. Die alte Generation hätte diese Transaktion, wie uns versichert wird, nie vollziehen können.
Die Familien der beiden Firmen sollen nämlich seit Jahrhunderten verfeindet gewesen sein. Die Jungen haben diesen unfruchtbaren Zustand rasch beseitigt. Ein Einzelfall? Vielleicht. Aber man kann heute ziemlich häufig ähnliche Geschichten in Paris und in der Provinz hören. Das läßt aufhorchen. Da wird zum Beispiel irgendwo mit der geheiligten Tradition gebrochen, wonach nur Familienmitglieder die Leitung der eigenen Firma übernehmen können. "Fremde", also "Manager", die nicht mehr am Kapital des Unternehmens beteiligt sind, werden herangebildet und angestellt. Das ist neu für Frankreich. Überall regt es sich in der Wirtschaft, überall herrscht Aktivität. Viel haben dazu auch die Flüchtlinge auf Afrika und Asien beigetragen, die oft das Salz in der Suppe der Unternehmen und ganzer Branchen geworden sind. Diese Flüchtlinge bringen oft neue Pläne und Vorstellungen mit, die gestern noch im französischen Mutterland als allzu kühn empfunden worden wären.
Frankreichs Wirtschaft mag heute auf manchen Gebieten immer noch rückständig sein. Aber Tag für Tag wird zielbewußt aufgeholt. Hart und systematisch arbeitet vor allem die junge Generation für morgen und übermorgen. Frankreichs Stellung im Gemeinsamen Markt wird ständig stärker.

HEINZ BRESTEL, PARIS

 

 

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